Erinnerungen an das Poesie-Album
„Wenn Du einst, nach vielen Jahren
Dieses Album nimmst zur Hand
Denke dran, wie froh wir waren
Auf der kleinen Schülerbank.“
Wir waren etwa zehn Jahre alt, als wir uns gegenseitig solche Verse ins Album schrieben. Schon unsere Mütter und Großmütter hatten ein Poesie-Album besessen und wir hätten zu gern auch eines gehabt, obwohl wir gerade das notvolle Jahr 1947 schrieben. In dem rührenden Bemühen, uns Kindern ein Stück heile Welt zu schaffen, wurde alles überhaupt Mögliche versucht und: wir bekamen unser Album. Freilich sahen diese „Do-it-yourself- Produkte“ recht abenteuerlich aus, denn sie waren aus Papier-Resten zusammen gestückelt.
Meine Freundinnen hatten ähnliche Hefte. Nur ein einziges Poesie-Album der alten Art war im Umlauf. Einige Seiten waren früher genutzt worden, aber der größte Teil war unbeschrieben und stand zur Verfügung. Hingerissen bestaunten wir die farbige Pracht der alten Hochglanz-Einklebebilder. Da gab es üppige Rosengirlanden, holde Engel mit lockigem Haar und reich gefüllte Blumenkörbe. Es war klar, damit konnten wir nicht konkurrieren.
Zum Ausgleich versuchten wir, den literarischen Teil unseres Beitrags so ansprechend wie möglich abzufassen. Vieles hatte sich in den letzten Jahren verändert, lediglich der Eintrag auf der ersten Seite war geblieben:
„Edel sei der Mensch, hilfreich und gut (J.W. Goethe).
Dies schrieb Dir zur Erinnerung
Deine Lehrerin …“
Damit war dem Herkommen Genüge getan. Aber das Repertoire an Album-Versen war riesig. Jede ältere Dame aus der Bekanntschaft freute sich, uns zu helfen. Und es gab so unglaublich verschiedenartige Verse. Da waren noch die von einem unerschütterlichen Gottvertrauen geprägten, wie z.B.:
„Wandle ruhig Deine Wege,
wenn es auch im Leben stürmt,
wisse, dass Dich Gottes Pflege unsichtbar, doch treu beschirmt“.
Oder:
“Genieße, was Dir Gott beschieden, entbehre gern, was Du nicht hast,
ein jeder Stand hat seinen Frieden,
ein jeder Stand hat seine Last“.
Es fanden sich aber auch Reime, in denen die Erwartungen an das junge Mädchen aufgezeichnet waren:
„Blüh auf wie das Veilchen im Moose, sittsam, bescheiden und rein,
nicht wie die stolze Rose,
die stets bewundert will sein“.
Erinnert sei auch an die gereimten Freundschaftsversprechen wie:
„Rosen, Tulpen, Nelken,
alle Blumen welken,
Stahl und Eisen bricht,
aber unsre Freundschaft nicht“.
Das Gegengewicht zu so viel Tugend und löblichen Eigenschaften bildeten Verse wie:
„Lebe glücklich, lebe froh,
wie der Mops im Paletot“.
Diesen Reim liebten wir besonders, vielleicht weil wir keine Ahnung hatten, was ein Paletot ist.
Und dann, ganz plötzlich, war die Zeit des Poesie-Albums für uns vorbei. Jetzt lasen wir, was uns in die Hände kam, besonders gern Karl May, und die zuhause gar nicht gern gesehenen Micky Maus Hefte: wir waren Teenager geworden. Und was wurde aus unseren Poesie-Alben? Sie landeten nach einigen Jahren auf den Dachböden und viele verschwanden im Laufe der Zeit.
Aber es gab auch Glücksfälle, in denen die Alben sorgsam behütet zusammen mit Familien-Fotos und alten Briefen an die nächste Generation weiter gegeben wurden. Aus dem „alten Krempel“ wurden damit Dokumente einer vergangenen Zeit. Unsere Mitbewohnerin, Frau Dorothee Koch, hat solch einen Schatz bis heute gehütet: nämlich das Poesie-Album ihrer Mutter und ihr eigenes. Mit Hilfe der modernen Technik können wir in ihnen „blättern“. So folgt hier eine Reihe mit Fotos aus den beiden Poesie-Alben. Dabei haben mich die sorgfältige Ausführung, die schönen Handschriften und die warmherzige Atmosphäre ganz besonders beeindruckt.
„In allen vier Ecken
soll Liebe drin stecken“.
Es ist erstaunlich, wie das sogar in einem alten Heft zu spüren ist. Ganz herzlichen Dank, liebe Frau Koch für diesen Rückblick.
Ihre
Dr. Ursula Feldmann, Bewohnerin der Tibus Residenz
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