Liebe Seniorin, lieber Senior,
in der letzten Woche, bzw. am Ende des letzten Jahres, haben wir uns damit beschäftigt, dass unser Gehirn kein objektives Fotoalbum ist, sondern dass es ergänzt, weglässt, verändert. Das ist eine faszinierende Fähigkeit, die uns im Alltag enorm flexibel macht. Schnell erfasst unser Gehirn Dinge, die gar nicht da sind oder die falsch geordnet sind und versucht, einen Sinn zu erkennen. Das kann natürlich auch dazu führen, dass unsere Wahrnehmung sich täuschen lässt.
Ein berühmtes Experiment
Die Harvard Professoren Daniel Simons und Christopher Chambris haben zu diesem Thema an der Universität Illinois ein Experiment durchgeführt: Studenten bekamen eine kurze Basketballsequenz per Film vorgespielt. Sie sollten den Ballbesitz der weiß gekleideten Mannschaft zählen. Mitten durch das Spielfeld lief später ein Gorilla. Dieser wurde von den meisten Testteilnehmern nicht wahrgenommen! Voll konzentriert auf die Zähl-Aufgabe blieb die Aufmerksamkeit der Studenten gebündelt, sie konnte nicht über die gesamte Szene schweifen und nahm daher nur selektiv, d.h. in Teilen, wahr.
Was uns unfassbar anmutet, könnte uns auch passieren…
Machen Sie sich im Kopf einen kleinen Film zu folgender Versuchs-Beschreibung:
Ein Mann fragt einen Herrn mit Hut nach dem Weg. Während der Herr ihm die Frage beantwortet, wird zwischen den beiden eine große Tür vorbei getragen. Der Mann, ein Komplize des Versuchsleiters, versteckt sich währenddessen hinter der Tür und wird gegen einen anderen Mann ausgetauscht, ohne dass der Herr mit Hut im nun folgenden Gespräch etwas merkt. Ihm ist also der Wechsel vollkommen entgangen!
Der Hintergrund: Wenn einstmals ein Mammut gejagt werden musste, konnten auch nicht die schönen Blumen in der Landschaft bewundert werden – die Aufmerksamkeit musste auf dem Mammut bleiben, durfte auf keinen Fall abschweifen. Jahrtausende währendes Training, das zum Erfolg führte, hinterlässt natürlich Spuren im Erbgut.
Veränderungsblindheit sagt der Wissenschaftler dazu, wenn unser Gehirn einfach hinzufügt, ändert, weglässt. Freuen Sie sich an Christian Morgenstern, den diese Arbeitsweise des Gehirns anscheinend auch fasziniert hat:
Die unmögliche Tatsache
Palmström, etwas schon an Jahren,
wird an einer Straßenbeuge
und von einem Kraftfahrzeuge
überfahren.
»Wie war« (spricht er, sich erhebend
und entschlossen weiterlebend)
»möglich, wie dies Unglück, ja –:
daß es überhaupt geschah?
Ist die Staatskunst anzuklagen
in bezug auf Kraftfahrwagen?
Gab die Polizeivorschrift
hier dem Fahrer freie Trift?
Oder war vielmehr verboten,
hier Lebendige zu Toten
umzuwandeln, – kurz und schlicht:
Durfte hier der Kutscher nicht –?«
Eingehüllt in feuchte Tücher,
prüft er die Gesetzesbücher
und ist alsobald im klaren:
Wagen durften dort nicht fahren!
Und kommt schnell zu dem Ergebnis:
»Nur ein Traum war das Erlebnis.
Weil«, so schließt er messerscharf,
»nicht sein kann, was nicht sein darf.«
Wo ist der Nutzen im Alltag?
Wo liegt nun der praktische Wert dieser Gehirnfunktion, habe ich mich gefragt. Diese Veränderungsblindheit führt dazu, dass unser Gehirn Reize verändert, so dass das Ergebnis Sinn macht. Im Alltag ermöglicht uns diese Fähigkeit z.B. auch dann sinnvolle Sätze zu lesen, wenn ein Text lückenhaft ist:
„We kmmt es, dass Se disen Stz lsen könn?“
Wir lesen nicht das, was hier steht, sondern ergänzen bzw. inter-pretieren diesen Satz automatisch so, wie es sinnvoll zu sein scheint (Wie kommt es, dass Sie diesen Satz lesen können?). Das haben Sie selbst schon erlebt, wenn ein von Ihnen hundertmal ge- lesener Text doch noch Fehler enthielt, die jemand anderes mühe- los entdeckte. Dann ist diese Fähigkeit allerdings nicht sehr sinnvoll!
Kleiner Test zur Veränderungsblindheit
Haben Sie etwas gemerkt oder hat Ihr Hirn freundlich seinen Job gemacht und ergänzt oder reduziert?
Lösung: Kannst du du den Fehler finden?
Wir machen diese Art Ergänzung den ganzen Tag. Wir sehen nur einen Rüssel und wissen: Aha, ein Elefant. Ein Elefant ohne Beine? Immer noch ein Elefant.
Wir ergänzen und lassen weg, weil unser Gehirn seit seinem ersten Lebenstag Spurmuster sammelt und Schablonen aufbaut. Und das ist sehr individuell. Überlegen Sie mal:
Kein Hirn auf der ganzen weiten Welt gleicht einem anderen.
Das ist doch unfassbar. Daher verstehen wir uns auch manchmal nicht oder nur schwer.
Unser Gedächtnis ist kein Fotoalbum – eher ein persönliches Malbuch.
Nun ergänzen Sie mal!
Nehmen Sie folgende Vornamen, die ich in Silben zerteilt habe. Ergänzen Sie nun beide Silben, sodass ein denkbares, aber ruhig auch verrücktes Nomen entsteht.
Überlegen Sie dann, was der Begriff bedeuten könnte. Sie können es im Kopf oder mit Papier und Stift machen.
Beispiel: Su-Si= Suppensieder = anderes Wort für Koch
An-Ton=
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Gus-Tel=
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Mar-Git=
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The-Kla=
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Bo-Ris=
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Hei-No=
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Ne-Le=
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Ur-Sel=
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Do-Ra=
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Jo-Nas=
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Pe-Ter=
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Vik-Tor=
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E-Gon=
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Kla-Ra=
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Ro-Sie=
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Wal-Ter=
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Fer-Di=
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Le-O=
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Ste-Fan=
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Zo-Ra=
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Ich wünsche Ihnen eine schöne Woche!
Corinna Reinke, Autorin des Buches “Frühling im Kopf”
https://senioren-muenster.de/woher-kommt-die-frische-briese/
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