Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erzählen ….
Wir möchten Sie teilnehmen lassen, an den Erfahrungen von Senioren aus der Tibus Residenz, die viele Jahre im Ausland verbracht haben und deren Leben dadurch geprägt wurde.
Auf nach Südamerika, dem Land des Aconcagua!
Vier Bände hat er fertig gestellt. Vier Bände über sein Leben. Sie reichen nicht für seine Lebenserfahrungen – vor allem für die, die er im Ausland gemacht hat. Die Rede ist von Lothar Herold, der 1938 nach Südamerika aufbrach – und erst 30 Jahre später in seine Heimat, nach Deutschland, dauerhaft zurückkehrte.
Es ist das Jahr 1938. Lothar Herold ist 26 Jahre alt und ausgebildeter Lehrer. Es ist eine Zeit, in der das auswärtige Amt dringend Lehrer für einen Einsatz im Ausland sucht. „Mir wurde eine Stelle in Argentinien, Südamerika, angeboten. Für vier Jahre sollte ich dorthin“, so berichtet Lothar Herold. „Ich bin in einem Schullandheim mitten in der Pampa, eine der größten Grassteppen der Erde, auf der tausende von Rindern und Schafen gezüchtet werden, gelandet. Das Landschulheim war für 20 deutsche Schulen aus Buenos Aires zuständig. Die Schüler aus der Großstadt sollten im Rahmen von 14-Tage-Kursen die Pampa kennen lernen. Ihre Eltern waren alle in den 20iger Jahren eingewandert. Sie gehörten zu den ca. 1 Million Deutschstämmigen in Argentinien. Das Schullandheim, 150 km von Buenos Aires entfernt, wurde eigens für die deutschen Schulen neu gegründet. Und ich war von Anfang an dabei. Ich habe den Unterricht auf deutsch gehalten und meine Kollegin, eine Argentinierin, das Fräulein Schreiber, hat den spanischen Unterricht erteilt. Neben dem Deutschen konnte ich Französisch und Latein, als ich in Argentinien ankam. Spanisch habe ich sehr schnell gelernt. Ich lebte sehr ländlich und hatte in den ersten vier Jahren als Fortbewegungsmittel ein Reitpferd. Die Pampa ist ein alter Meeresboden, der bei Nässe völlig rutschig wird. So konnte man bei Regenzeiten und im Winter wirklich nur mit dem Pferd durchkommen. Auf einmal führte ich so ein ganz anderes Leben – aber von Heimweh keine Spur. Alle acht Tage kam ein Luftbrief aus Deutschland von meinen Eltern. Und jeden Abend habe ich eine viertel Stunde den Deutschlandsender gehört und die deutsche Tageszeitung gelesen. Das tat ich aus Interesse, nicht aus Sehnsucht.
Von der Pampa in den tropischen Urwald
Nach drei Jahren hätte mir ein Deutschlandbesuch, vom auswärtigen Amt finanziert, zugestanden. Aber dazu ist es nicht gekommen, weil der Krieg zwischenzeitlich ausgebrochen war. 1942 wäre mein Dienst im Ausland eigentlich beendet gewesen. Ich musste aber das Kriegsende abwarten. Ich hätte gar nicht nach Deutschland zurückgekonnt. Hätte ich es trotzdem versucht, dann wäre ich von den Briten interniert worden. So wartete ich fünf Jahre auf das Ende des Krieges.
1943 habe ich eine neue Stelle angenommen. Ich wurde als Schulleiter in die Provinz Misiones in den Ort Montecarlo abgeworben. Ich lebte nun nicht mehr in der Pampa, sondern im tropischen Urwald. Man musste fünf Tage mit dem Schiff auf dem Strom Parená reisen, um diese Gegend zu erreichen. Hier lebten Schwaben, die in den 20iger Jahren eingewandert waren. Diese hatten den Urwald gerodet, Pflanzungen angelegt und sich so eine neue Existenz aufgebaut und gesichert. Dabei hatten sie sich allerdings mit den Behörden vor Ort überworfen. Die Schwaben hatten in all den Jahren kein Spanisch gelernt, die Argentinier kein Deutsch. Meine Aufgabe bestand darin, den Kontakt zwischen diesen Einwanderern und den Argentiniern aufzubauen. Ich lebte drei Jahre im Urwald. Es war eine herrliche Zeit. Ich war dort alles in einem: Schulleiter, Musikleiter, Turnleiter. Ich habe mich bemüht, bei ihnen eine Offenheit für die Argentinier zu entwickeln. Die Leute machten begeistert mit. Und, in meinen Ferien bin ich durch Südamerika gereist. So wurde ich auch Geograph.
Gefeiert wie Helden
1945 erklärt Argentinien Deutschland den Krieg. Das hatte zur Folge, dass alle deutschen Organisationen, Fabriken und Schulen enteignet wurden. Es traf auch mich. Auf einmal hatte ich keinen Job mehr, keinen Wohnsitz. Ich hatte gerade genug Geld für eine Rückreise nach Deutschland. Aber Deutschland lag in Schutt und Asche. 50 deutsche Lehrer konnten nicht mehr zurück und gingen in Fremdberufe. So auch ich. Ich bin als Geograph tätig geworden und habe Andenexpeditionen organisiert und begleitet. In den folgenden Jahren habe ich dreimal den „Aconcagua“ bestiegen, den höchsten Berg Amerikas, etwa 7000 Meter hoch.. Eine der drei Besteigungen war die Erstbesteigung des Südgipfels des „Aconcagua“. Den haben wir, drei deutsche Bergwanderer, bezwungen. Mein Eispickel stand sechs Jahre auf dem Gipfel des Aconcagua.
Dadurch wurde ich in Südamerika berühmt. Wir wurden gefeiert wie Helden. Über uns wurde in allen argentinischen Zeitungen berichtet. Das war für das Deutschtum in Argentinien wie eine Art Neuanfang. Nach einer so langen Welthetze gegen alles Deutsche, nach Verboten von Deutschunterricht an den Schulen, nach vielen Enteignungen, war das von großer Bedeutung.
In der folgenden Zeit habe ich überwiegend geografische Vorträge über die Ergebnisse meiner Expeditionen im südlichen Südamerika gehalten. Diese führten mich überwiegend auf Neuland und waren Forschungsarbeiten. Ich habe Bergseen befahren, die zuvor noch nie ein Mensch befahren hatte, und habe einen Führer über Argentinien geschrieben, der in fünf Auflagen erschienen ist.
Als Privatlehrer in Buenos Aires
Das Geld, das ich mit meinen Vorträgen verdient habe, hat leider zum Leben nicht gereicht. So habe ich dann nach Kriegsende als Privatlehrer in Buenos Aires gearbeitet. Ich habe Musik unterrichtet und wurde mit Aufträgen überschüttet, da viele Eltern für ihre Kinder unbedingt einen deutschen Lehrer haben wollten. Es gab ja noch immer keine deutschen Schulen. Erst ab 1950 wurden wieder deutsche Schulen gegründet. Da war ich beratend dabei. Die deutsche Botschaft bekam wieder einen Kulturattaché, die Eltern gründeten Schulvereine. Bis 1958 war ich als Privatlehrer und Berater bei Schulgründungen tätig. 1950 rief die Botschaft alle Lehrer, die zuvor in Fremdberufen tätig waren, ins Lehramt zurück. Die gingen dann alle nach Deutschland zurück, um ihre Pension zu sichern. Ich auch – schweren Herzens. Für mich war klar, dass es nur eine Frage auf Zeit war, bis ich zurück nach Argentinien käme.
Von 1958 bis 1961 war ich in Deutschland. Bei all meiner Sehnsucht nach Argentinien war es auch spannend Deutschland wieder kennen zu lernen. Und, ich habe meine Mutter wieder sehen können – nach über 17 Jahren. Wir hatten, bis auf die Kriegsjahre, immer in Briefkontakt gestanden. Jetzt wurde ich zum Realschullehrer ausgebildet. Da meine Papiere durch den Krieg in Schlesien verlorengegangen waren, hatte ich den Status eines „im Ausland verbliebenen Beamten“. Das Auswärtige Amt bewog mich, zurück nach Südamerika zu gehen. Der Bedarf an Lehrern dort war ungebrochen groß. Jetzt ging ich allerdings als ein aus Deutschland vermittelter Lehrer rüber, das heißt mit deutschem Gehalt. 1938 war das ganz anders. Da wurde mir lediglich die Reise gezahlt und ich war entsprechend beurlaubt worden.
Zurück in Deutschland
Ich bin dann noch einmal für sieben Jahre zurück nach Argentinien gegangen. Das Kultusministerium von NRW, das mich als Realschullehrer angestellt hatte, erlaubte nur eine maximale Auslandszeit von sieben Jahren. So musste ich 1968 zurück nach Deutschland kommen. Die letzten zehn Jahre meines Berufsleben war ich stellvertretender Direktor einer Realschule in Köln und war nebenberuflich Geographiedozent am Studienkolleg für ausländische Studierende an der Universität in Köln. Später als Pensionär, habe ich noch viele Jahre Vorträge über meine Expeditionen – es waren in der Regel 30 pro Semester an Volkshochschulen – gehalten, und es mir nicht nehmen lassen, noch einige Male nach Argentinien zu reisen.
Einen Großteil meines Lebens, ich bin jetzt 97 Jahre alt, habe ich in Argentinien verbracht. Es war eine weltbewegte Zeit, die mich und mein Leben geprägt hat. Die Erfahrungen, die ich dort gemacht habe, sind Teil meines Daseins geworden. Wenn ich an Argentinien denke, dann denke ich an die vielen Freunde, die ich dort hatte. Sie waren meine Familie. Inzwischen stehe ich mit ihrer Nachfolgegeneration in engem Kontakt. Post und Telefonate aus Argentinien gehören zu meinem Alltag. Lothar Herold ist zufrieden mit seinem Leben – auch heute noch. Dem rüstigen Senior geht es gut. Nur mit dem Laufen, da hat er Probleme. Einige Zehen fehlen. Die sind ihm bei einer seiner Besteigungen des „Aconcagua“ erfroren – damals, in Argentinien.
Nachtrag: Lothar Herold ist im Jahr 2012 verstorben.
Ulrike Wünnemann
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