Nachgefragt

In lockerer Folge interviewen wir Menschen aus der Residenz. Dieses Mal sprachen wir mit dem 39-jährigen Karma Isering Wanggyal Wild, einem Kollegen im Pflegewohnbereich, der aus dem Tibet kommt.

Wie kommt es, dass ein Tibeter in Münster lebt?
Meine damalige Frau war Münsteranerin. Ich habe sie kennengelernt, als ich in Indien lebte. Von dort bin ich zurück nach Tibet gegangen. Dort bekam ich aber große Schwierigkeiten, weil ich in Indien den Dalai Lama getroffen hatte. Von diesem Treffen gab es Fotos. Deshalb musste ich ins Gefängnis. Nur weil meine Familie viel Geld bezahlt hat, kam ich dort nach sechs Monaten wieder raus. Durch meine Frau habe ich einen deutschen Pass bekommen können. Und so konnte ich aus Tibet fliehen. Ich wäre gerne dortgeblieben. Aber die Unterdrückung durch die Chinesen ist dort wirklich sehr schlimm; man ist dort überhaupt nicht frei. Ich bin geflohen, weil ich meine Menschenrechte und meine Religion, den Buddhismus, frei ausüben wollte.

Wie sah dein Leben im Tibet aus?
Bis zu meinem 13. Lebensjahr lebte ich mit meinen Eltern frei in der Natur im höchsten Hochland der Welt auf 4500 Metern Höhe. Ich bin als Nomade geboren. Meiner Familie gehörten vier Täler. Über das Jahr haben wir immer in einem anderen Tal gelebt, da, wo gutes Gras für die Tiere war. Wir sind mit unseren Tieren von einem Tal ins nächste gezogen. Nur im Winter blieben wir immer in demselben Tal, da wir dort ein Haus hatten, einen festen Platz. In den übrigen Jahreszeiten haben wir draußen mit unseren über tausend Tieren gelebt. Wir hatten Schafe, Ziegen, tibetische Yaks, Hunde und Pferde. Jedes Kind hatte sein eigenes Wildpferd und hat es selber eingeritten. Ich bin auf dem Rücken der Pferde aufgewachsen! Ich habe dieses Leben sehr geliebt. Als Kind kannte ich nur die Natur; ich kannte kein Auto, keine Elektrizität. Ich kannte nur die Erde und den Himmel und unsere Tiere. Manchmal träume ich nachts von den Ausritten durch die Täler Tibets.

Leider musste ich mit 13 Jahren zur Schule in die Stadt. Die chinesische Polizei ist in unser Zuhause gekommen und hat mich ausgesucht für den Besuch in einer chinesischen Schule. Meine Eltern wollten das gar nicht. Aber im Tibet muss aus jeder Familie ein Kind dorthin, um die chinesische Kultur zu lernen. Wir wurden gegen unseren Willen gezwungen in diese Schulen zu gehen. Noch heute kämpfen wir gegen die Unterdrückung durch China.

Der Umzug in die Stadt war ein totaler Kulturschock für mich. Ich konnte erst gar nicht schlafen, weil die Geräusche in der Stadt so ungewohnt für mich waren. Uns Nomaden wurde ein fremdes Leben aufgezwungen. Viele von uns, die in die Stadt kommen mussten, wurden Alkoholiker, weil sie mit den großen Veränderungen nicht klarkamen. Das wurde ich zum Glück nicht, obwohl ich mich in der Stadt wirklich sehr verloren fühlte. Mein Wissen als Nomade war dort nicht gefragt. Nach einigen Jahren in der Stadt fühlte ich mich wie ein Mensch zwischen den Welten: ich gehörte nicht in die Stadt und ich gehörte irgendwie auch nicht mehr wirklich zum Nomadentum. Zum Glück haben mir meine Eltern durch ihre Liebe das nötige Selbstbewusstsein und Mitgefühl gegeben. Sie haben mich stark gemacht. Deshalb habe ich keine Probleme, mich überall schnell einzugewöhnen, egal wohin ich hingehe. Leider sind meine Eltern schon verstorben, aber meine Geschwister leben noch im Tibet. Theoretisch könnte ich zu ihnen einreisen, aber ich würde Tibet dann wohl nicht mehr verlassen dürfen. Davor habe ich Angst. So kann ich meine Familie leider nicht sehen. Meine Geschwister können nicht ausreisen, da sie keinen Pass bekommen. Wir können nur oberflächlich miteinander telefonieren, da unsere Telefonate abgehört werden.

Wie war dein Beginn in Deutschland?
Seit elf Jahren lebe ich in Deutschland, in Münster. Nach Deutschland zu kommen, war für mich eine große Ehre. Bis jetzt habe ich hier gute Erfahrungen gemacht. Ich war sogar schon einmal in Bayern. In Münster habe ich zuerst in der Küche als Koch eine Arbeit gefunden und später dann bei der Firma „Hengst”. Dort hätte ich einen unbefristeten Vertrag bekommen können, aber meine Seele wollte das nicht. Mein Sinn im Leben ist es nicht, mit Maschinen zu arbeiten, sondern mit Menschen. So habe ich 2013 meine Ausbildung zum Pflegeassistenten gemacht. In der Ausbildung wurde ich von den Lehrern sehr unterstützt und bekam viel Mut zugesprochen. Einige Schüler aber hatten sich über mich beschwert, weil mein Deutsch nicht so gut war. Meine damalige Lehrerin sagte: „In der Pflege kommt es neben der Bildung besonders darauf an, was für ein Mensch man ist.“ Ich habe die Chance, die ich dort bekommen habe, sehr zu schätzen gewusst und war sehr fleißig. Dann habe ich länger im ambulanten Dienst gearbeitet, bevor ich vor zwei Jahren in die Tibus Residenz gekommen bin.

Wie gefällt es dir in der Residenz?
In der Residenz gefällt es mir richtig gut; ich habe tolle Kolleginnen und Kollegen und viele Bewohnerinnen und Bewohner finden mich sympathisch und interessant. Sie fragen mich viel über Tibet, den Dalai Lama und über seine buddhistische Philosophie. Viele von ihnen wären gerne einmal im Leben im Tibet gewesen, gerne einmal auf „dem Dach der Welt“.  Der Dalai Lama, unser geistiges Oberhaupt, ist ein weiser Philosoph. Er sagt, wir Menschen sind alle gleich und auch alle Religionen sind gleich. Ich habe großen Respekt vor dem, was er denkt. Für mich war es ein großes Glück ihn einmal live erlebt zu haben. Auch ich versuche alle Menschen gleich zu sehen. Wir sind doch alle Menschen und jeder möchte gerne glücklich sein und Leid vermeiden. Wenn sich die politische Lage im Tibet beruhigt, möchte ich gerne dorthin zurück. Keine Ahnung, wann das sein wird und ob es jemals sein wird.

Was ist Wertvolle an deiner Arbeit?
Es sind die Geschichten, die jeder hat. Die verschiedenen Leben. Die Bewohnerinnen und Bewohner erzählen davon; und manchmal zeigen sie auch Fotos. Sie waren mal so hübsch und so stark! Und im Alter hat man so viel weniger Respekt vor ihnen. Warum? Die Seele ist doch gleich. Wenn ich überlege, was sie alles im Leben geleistet haben, wie viel sie gearbeitet haben, davor muss man doch Respekt haben, oder? Es ist für mich eine große Ehre, sie in ihren letzten Lebensjahren unterstützen zu dürfen. Aus dieser Haltung heraus verrichte ich meine Arbeit. Ist es nicht das Größte, das wir Menschen einfach füreinander da sein können?

Meine Arbeit lehrt mich Dankbarkeit für die schönen Momente, und dafür, dass ich gesund bin. Es geht mir sehr gut hier. Ich habe Glück gehabt, dass ich hier gelandet bin.
Ulrike Wünnemann

Ich weinte, weil ich keine Schuhe hatte. Da sah ich jemanden, der hatte keine Beine.
Dieses Zitat bedeutet Gama sehr viel. Er hat es während unseres Gesprächs mehrere Mal erwähnt.

 

 

 

2 Kommentare zu “Nachgefragt

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