Galina Schimanowski kenne ich schon lange. Vom Sehen. So persönlich, wie bei dem Interview, haben wir noch nie miteinander gesprochen. Ihre Worte lassen mich demütig werden.
“Von den Bewohnerinnen und Bewohnern lerne ich so viel. Sie sind so gut zu mir.”
„Ich bin als Ukrainerin in Kasachstan geboren und habe aber bis zu meinem 18. Lebensjahr in Russland gelebt. Dann bin ich für einige Jahre zurück in die Ukraine gezogen, um dort russische Sprache und Literatur auf Lehramt zu studieren. Nach meiner Hochzeit zog ich zurück nach Russland. Ich habe mit meinem Mann und unseren drei Kindern dort weitere zwanzig Jahre gelebt. 2001, als ich 42 Jahre alt war, sind wir nach Deutschland gekommen. Seit kurzem habe ich auch die deutsche Staatsbürgerschaft! Ich bin darüber sehr froh, denn inzwischen fühle ich mich eben auch wie eine Deutsche – wie eine Deutsche mit ukrainischer Seele.
Wir lebten mit unseren drei Töchtern in Uljanowsk, Russland
Dort hatten wir ein recht schweres Leben. Wir hatten nicht viel Geld, es gab kaum Möbel, in den Geschäften gab es nur wenig Kleidung für die Kinder. Die einzigen Reisen, die wir unternahmen, führten zur Schwiegermutter in ein kleines Dorf nach Kasachstan. Mein Mann stammt von dort und lebte in einer Minderheitengruppe, die die deutsche Kultur gelebt hat und plattdeutsch gesprochen hat.
Trotz all dieser Umstände wollte ich Russland nicht verlassen, denn dort war mein Leben, dort waren meine Freunde, dort hatte ich meine Arbeitsstelle in der Schule. Mein Mann aber sagte: „Galina, wir haben drei Töchter, wie können wir es schaffen drei Hochzeiten auszurichten, drei Wohnungen zu finden und womöglich noch drei Fernseher zu kaufen? So hat mein Mann mich überredet, in Deutschland auf eine bessere Zukunft zu hoffen. Wir haben dann noch sechs Jahre auf die Genehmigung für die Einreise warten müssen. Diese war Voraussetzung für uns Spätaussiedler. Und verschiedene Deutschtests musste mein Mann auch nachweisen. Als die Genehmigung endlich kam, waren unsere Töchter bereits 12, 16 und 19 Jahre alt.
Die erste Zeit in Deutschland war sehr schwierig
Wir haben zunächst für einen Monat in Unna Massen in einem Flüchtlingsheim gelebt. Dann erst kamen wir nach Münster. Hier wohnten wir für acht Monate in einer Notunterkunft, die früher einmal eine Schule war. Wir hatten für fünf Personen ein einziges Zimmer mit Etagenbetten. Das war aber egal. Hauptsache, wir waren in Deutschland und konnten von hier aus in Ruhe eine Wohnung suchen. Anfangs waren wir sehr angespannt, verunsichert und verängstigt. Ich habe kein Deutsch verstanden und lebte wie in einem Vakuum. Aber ich habe verstanden, dass es in Deutschland viele Möglichkeiten für unsere Kinder gibt. Unsere jüngste Tochter zum Beispiel arbeitet heute als Lebensmittelchemikerin bei Oetker; unsere Älteste ist als Rechtsanwältin tätig und die Dritte ist Buchhalterin in einer sehr großen Firma. Es ist wie ein Traum! Für unsere Kinder, für meinen Mann und natürlich auch für mich. Dafür haben sich all die Mühen gelohnt! Genau das war unser Ziel: Wir wollten unsere Kinder an einen Ort bringen, der gut für ihre Zukunft ist. Dafür haben wir gerne Opfer gebracht. Und die gab es! Zu Beginn hatte ich wirklich großes Heimweh. Ich war ja nach wie vor die Gleiche; eine Ukrainerin, die ganz anders aufgewachsen ist. Hier in Deutschland war alles so fremd; auch wenn mir die Kultur und die Mentalität der Deutschen von Anfang an gefiel. Und mir gefiel natürlich auch mein „Lieblings-Tibus“!
Was für ein Glück, dass ich hier in der Residenz anfangen durfte zu arbeiten!
Ich entdeckte in der Zeitung eine Stellenanzeige der Firma „Asito“, die Reinigungskräfte suchte. So kam ich hierher. Die Arbeit war körperlich sehr schwer für mich. Als Lehrerin war ich es nicht gewohnt, so harte Arbeit zu verrichten. Nach der Arbeit hatte ich manchmal kaum noch die Kraft, meine Wohnungstür aufzuschließen. Dennoch war (und ist) es für mich wichtig, die Dinge zu akzeptieren, so wie sie sind. Ich habe nicht gedacht: Oh, ich wusste nicht, dass ich in Deutschland so schwer arbeiten muss, wäre ich doch nur in Russland geblieben. So zu denken ist falsch. Das Gute an dieser Arbeit war ja auch, dass ich die deutsche Sprache gelernt habe. Die Bewohnerinnen und Bewohner haben mir Deutsch beigebracht. Wirklich! Damals lebte in Haus 6 eine Bewohnerin, die sagte zu mir: „Galina, Sie müssen vernünftig antworten und nicht immer nur „ja, ja“ sagen, nur weil sie nichts verstehen.“ Von den Bewohnern habe ich wirklich sehr viel gelernt. Nicht nur die deutsche Sprache, sondern auch viel für mein Leben. Sie waren und sind so gut zu mir. Ich frage sie immer: „Was haben Sie gemacht, dass sie so alt werden können?“ Die Antwort einer Dame lautete: „Indem ich jede Sekunde meines Lebens genieße.“ Das tat so gut zu hören.
Nach fünf Jahren im Reinigungsdienst konnte ich zum Etagenservice wechseln
Da habe ich zu Ilona Hofmann, meiner damaligen Vorgesetzen, gesagt: „Meine Mutter hat mir mein Leben geschenkt und du Ilona, du verlängerst es.“ Hier im Etagenservice gefällt es mir viel besser. Ich muss körperlich nicht mehr so hart arbeiten und kann mich hier noch einmal auf eine andere Art und Weise einbringen; kann mehr mit den Leuten sprechen, kann mehr Freude bringen. Ich denke, es gibt gar nicht so einen großen Unterschied zwischen meinem Beruf als Lehrerin und der Tätigkeit im Etagen-Service. Auch hier wollen die Menschen Aufmerksamkeit und mit Liebe, Respekt und Höflichkeit behandelt werden. Anders geht es ja auch nicht. Helga Stöppler unsere Vorgesetze macht das mit uns Mitarbeiterinnen der Abteilung genauso. Sie versucht immer alles irgendwie für Alle möglich zu machen und plant wirklich sehr gut.
Ich bin jetzt seit dreizehn Jahren im Etagen-Service
Und hier bleibe ich bis zu meiner Rente. Etwas anderes will ich nicht. Denn das „Tibus“ ist meine Welt. Im Etagenservice bringen wir nicht nur Mahlzeiten in die Wohnungen, sondern wir sind die erste Hilfe bei Anfragen unterschiedlichster Art. Wir haben den Notruf immer bei uns. Und wenn dieser klingelt, dann müssen wir alles stehen und liegen lassen, loslaufen, sofort reagieren und entsprechend Hilfe organisieren. Wir wissen nie, was uns erwartet. Es ist eine sehr verantwortungsvolle und sehr wichtige Arbeit. Daneben werden wir auch mal angefragt, Wasser bereit zu stellen, dass Fenster zu öffnen oder zu schließen, das Rollo hoch oder runter zu fahren. Besteht besonderer Bedarf, geben wir das an die entsprechenden Abteilungen im Haus. Zwischendurch nehmen wir uns auch immer etwas Zeit für Gespräche. Die Bewohnerinnen und Bewohner berichten so gerne von ihrer Familie, von ihren Enkelkindern und Urenkeln. Häufig sind wir der einzige Besuch am Tag.
Wenn wir den Alltag für einen Menschen ein bisschen schöner machen können, dann ist das in meinen Augen sehr wertvoll
Unsere Arbeit ist so vielseitig. Ich liebe sie; das spüren auch die Bewohner. Ich bin jetzt schon so lange hier im Haus, und wenn ich durch die Flure gehe, dann erinnere ich mich an alle Bewohnerinnen und Bewohner, die ich hier im Laufe der Jahre kennen lernen durfte. Ich vergesse niemanden. Und wenn ich mich frage, wie ich selbst wohl später mit dem Alter umgehen werde, dann nehme ich mir einige Bewohnerinnen als Beispiel und zum Vorbild. Von ihnen durfte und darf ich auch heute noch so viel lernen. Dafür bin ich sehr dankbar.“
Ulrike Wünnemann
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